Wesentlich dabei ist zu verstehen, dass in den ersten drei Lebensjahren das Fundament für eine sichere Bindung gelegt wird. Dies ist jedoch gleichzeitig die Zeit, an die wir uns nicht bewusst erinnern können. Daher finden wir zumeist auch keine rationalen Erklärungen unserer oben dargestellten Symptomatik im Erwachsenen‐Alltag. Letztendlich können wir nur rückblickend auf die ersten Lebensjahre Schlüsse ziehen, indem wir unser Beziehungsleben und unser Leben heute anschauen, da sich die erlernten Überlebensstrategien und ‐muster bis heute wiederholen. Wir benötigen folglich dieses Wissen, was damals geschah nicht, um die Traumatisierung behutsam lösen zu können. Das große Dilemma ist, wir selbst sehen nicht, dass wir diese Muster haben und auf die Welt anwenden. Je tiefer dieses Muster geprägt ist, desto automatisierter regieren wir. Wir sind uns nicht bewusst, dass unser Nervensystem hier unbewusst auf eine alte Information reagiert und nicht auf die heutige Situation.
Für Babys ist verlässlicher Kontakt zu den engsten Bezugspersonen (zumeist den Eltern) existenziell. Sowohl körperliche Nähe als auch feinfühlige emotionale Präsenz und Co‐Regulation bieten im natürlichen Fall genau den sicheren Raum, den ein Kind braucht, um wachsen und sich frei entfalten zu können. Ein allein gelassenes Baby weiß unbewusst mit all seinen Körperzellen, dass es als völlig hilfloses Wesen alleine sterben wird. Dies ist ein akut lebensbedrohlicher Zustand für ein Baby – da es nicht weiß, dass die Bezugsperson gleich wiederkommen wird. Demnach werden zahlreiche für einen Erwachsenen als harmlos erscheinende Situationen für ein Baby als absolut existenziell im Nervensystem abgespeichert und das Baby wird unsicher gebunden oder entwickelt sogar eine Bindungsstörung.
„Der Mensch wird am Du zum Ich.“ (Zitat: Martin Buber)
Wir brauchen ein verlässliches Gegenüber, um uns selbst zu erfahren und spüren zu lernen.
Daher ist es nahezu unmöglich, Bindungs‐ und Entwicklungstraumata alleine zu lösen. Es braucht heute genau das, was wir damals nicht hatten – einen Menschen, der uns sieht und DA bleibt – mit allem, was ist.
Durch frühe Verletzung, den Mangel an Empathie und Einfühlung entsteht dieses grundlegende Gefühl von Einsamkeit, wenn unsere Eltern sich nicht auf uns einstellen können oder uns viel alleine lassen. Das sogenannte „Window of Tolerance“ wird relativ schmal ausgeprägt und wir haben große Schwierigkeiten, uns selbst zu regulieren und glücklich zu sein. Unsere körperliche, nervliche Reaktion ist permanent auf eine vergangene Gefährdung oder gar lebensbedrohliche Situation eingestellt.
Um diese latente Bedrohung unter Kontrolle zu halten, flüchten Traumatisierte in den Kopf und kontrollieren das Leben von dort aus.
Wir trennen uns dann teilweise, mehr oder weniger, von unserem Körper ab. Dies führt dazu, dass wir auch Emotionen kaum körperlich spüren, angenehme wie unangenehme.
Auswirkungen und Chance von Trauma
Nicht jedes traumatische Erlebnis führt automatisch zur Beeinträchtigung im weiteren Leben des Betroffenen. Faktoren wie Art, Häufigkeit und Zeitpunkt des erlebten Geschehens sowie die eigene Resilienz haben Einfluss auf die Verarbeitungsmöglichkeiten der Psyche. So kann der plötzliche Tod eines nahestehenden Menschen als traumatisierend erlebt werden, wenn nicht genügend innere Ressourcen vorhanden sind, das Geschehen zu verarbeiten. Psychische Bedrohung oder Gewalt könnte von dem einen Kind als äußerst überwältigend erlebt werden, während ein anderes sich im sozialen Umfeld gemäß seinen Fähigkeiten zumindest eine gewisse Verarbeitung ermöglicht. Die individuellen Ressourcen und Kraftquellen zu fördern ist deshalb die Basis jeder Traumaarbeit.
Trauma‐Wunden der Seele können heilen – ebenso wie körperliche Wunden. Es entsteht eine „Narbe“ und diese Stelle bleibt lebenslang empfindlicher und weniger flexibel als die restlichen, unversehrten Stellen. So ist es auch bei „Narben auf der Seele“. Auch wenn die Verletzung nicht ungeschehen gemacht werden kann – sie kann heilen und im besten Fall dann sogar als besondere Stärke erkannt werden.
„Trauma ist so viel mehr als nur etwas, das uns widerfahren ist. Es prägt unser Denken und unser Erleben oft weit mehr als uns das zunächst bewusst ist. Es ist wie eine Brille, die man trägt und die alles einfärbt: unsere Beziehungen, unser Selbstbild, unsere Erwartungen an die Welt. Trauma hat allerdings auch andere Aspekte, über die selten gesprochen wird. Eine Traumatisierung lässt Menschen oft viel mehr über ihr Leben reflektieren als andere. Es regt an, nach einem tieferen Sinn zu suchen. Es macht viele Menschen sehr sensibel für andere Menschen.“ Dami Charf